Als Psychotherapeutin und als selbst Betroffene möchte ich
zunächst feststellen: ME/CFS ist eine körperliche Erkrankung,
die - wie wohl die meisten Erkrankungen auch - psychosomatische
Anteile und/oder psychische Folgeerscheinungen hat.
Leitsymptome von ME/CFS sind eine schwere Erschöpfung,
Konzentrations- und Schlafstörungen, Schmerzen und eine
ausgeprägte Belastungsintoleranz.
Meine Lebensumstände in 2002 zum Zeitpunkt der Diagnose
waren schon einige Zeit recht herausfordernd und das war auch
in den Folgejahren nicht anders... so ist Leben halt. Als
"Psychotante" war es für mich selbstverständlich, die
jeweiligen Lebensumstände als Auslöser meiner Symptome
anzusehen. Was ja im Hinblick auf Überforderung nicht
grundverkehrt ist, aber eben nur die halbe und zum Teil
verdrehte Wahrheit.
Erst als bei mir Ende 2021 einmal mehr nichts mehr ging und
ich in eine schwere depressive Phase gerutscht bin, habe ich
angefangen, genauer hinzuschauen. Es hat dann noch einmal - mit
Unterstützung durch Coaching und Psychotherapie - zwei Jahre
gedauert, bis ich die Diagnose ME/CFS verstehen und akzeptieren
konnte.
Aus meiner Sicht ist es besonders schwierig und besonders
wichtig, die eigenen Symptome und Impulse einordnen zu lernen,
z.B.: Möchte ich z.B. Gartenarbeit vermeiden, weil ich
niemanden treffen möchte (Depression?) oder befürchte ich,
damit eine Überlastungsreaktion auszulösen (Angst?) ODER möchte
/kann ich nicht im Garten arbeiten wegen meiner ME/CFS-Symptome
wie einem bereits deutlich entleerten Akku ODER ist es eine
psychosomatische Kombi?
Die Antwort darauf ist auch für leicht bis moderat
Erkrankte schwierig und ich weiß nicht, ob sie bei schwerer
Erkrankten mehr als eine grobe Annäherung sein kann.
Bei Depressionen, Angst oder PTBS ist ein anderer Umgang
hilfreich (GET) als bei ME/CFS (Pacing). Darum ist es enorm
wichtig, für sich selber einordnen zu lernen, wer gerade mehr
Hilfe benötigt: Körper oder Seele - wobei es natürlich
grundsätzlich ein Zusammenspiel beider bleibt.
So kann auch bei leerem Akku ein kurzer Spaziergang oder
ein kurzes Telefonat wichtig sein, um die Grübelspirale
oder Suizidgedanken zu unterbrechen. Und es kann nötig
sein, etwas nicht zu tun, was Freude macht, weil der Akku
sonst noch leerer wird und die Konsequenz daraus neben
einer Überlastungsreaktion nicht selten auch eine
psychische Destabilisierung ist.
Aus meiner Sicht hilft nur behutsames Ausprobieren. Ja, der
Körper setzt Grenzen, wie auch bei jeder anderen Erkrankung
oder im Alter. Manche Grenzen sind jedoch "nur" im eigenen
Kopf. Und die dürfen im eigenen Tempo und den eigenen
Möglichkeiten entsprechend versetzt werden.
Weil ich zu denjenigen gehöre, die die eigenen Grenzen
nicht immer angemessen beachten, sich immer wieder einmal auch
für sie schämt, hilft mir der Zucker-Vergleich:
Zu einer Diabetikerin würde niemand sagen: Du musst einfach
nur üben, mehr Zucker zu essen!" Oder? Mein "Zucker" sind
Aktivitäten im mentalen, sozialen, körperlichen und
psychischen Bereich. So lecker ich sie finde: Zu viel
ist zu viel. Punkt.